
Im internationalen Kampf gegen den Alkohol gründete die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) Österreichs am 19. Jänner 1905 den Arbeiter-Abstinentenbund. In seiner Aufklärungsarbeit griff der Verein auf wissenschaftsbasierte Visualisierungen zurück. Die vorliegende Diareihe, bestehend aus 60 Glasplattendiapositiven, die Anfang der 1920er vom Deutschen Hygiene-Museum Dresden gefertigt wurden, spiegelt die Kernansichten und die Argumentationspolitik der sozialhygienisch ausgerichteten alkoholgegnerischen Bewegung Deutschlands, Österreichs und der Schweiz wieder.
Die Lichtbidreihe zum Vortrag „Der Alkoholismus“ mit dazugehörigen Bildverzeichnis
Inhalt
Messen, vergrößern und diagnostizieren
Auf diesem Bild ist ein mit einem Messgerät zur Bestimmung des Energieumsatzes im Körper ausgerüsteter Bergsteiger zu sehen, der ca. 800 Höhenmeter bei der Besteigung eines Berges in der Region Montafon überwindet. Die erforderliche Zeit, die Arbeitsleistung während des Aufstiegs, der gesamte Energieverbrach und der Wirkungsgrad wurden im nüchternen Zustand mit den Werten verglichen, welche der Bergsteiger nach dem Genuss einer geringen Menge Alkohols erzielte. Der Bergsteiger benötigte unter Alkoholeinfluss ein Fünftel mehr Zeit und hatte einen um ein Siebentel höheren Energieverbrauch als im nüchternen Zustand. Die Arbeitsleistung betrug somit nur 83,6%. Der Wirkungsgrad im alkoholisierten Zustand lag bei weniger als 87% im Gegensatz zu 100% bei Alkoholkarenz. Die Untersuchung wurde von Arnold Durig (1872 -1961), einem österreichischen Naturwissenschaftler, geleitetet. Die Ergebnisse des Experiments sind in Form eines Balkendiagramms dargestellt.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlangte die Medizinalstatistik den Höhepunkt ihrer Popularität. Die bildliche Umsetzung quantitativer Erhebungen entwickelte sich zu einem prominenten Instrument im Rahmen der aufklärerischen Tätigkeiten der alkoholgegnerischen Bewegungen.

Auch mikroskopische Darstellungen wurden gezielt eingesetzt, um naturwissenschaftliche Erkenntnisse und medizinische Theorien über die Gefahren des Alkoholkonsums für die Allgemeinheit sichtbar zu machen.

Einseitige Argumentation. Die Causa des Elends
Das Wirtshaus – ein Ort, um die missliche psychosoziale Situation zu vergessen. Der Alkohol – ein Mittel, um aus der trostlosen Realität zu flüchten. Bewältigungsstrategien, die eine Abwärtsspirale in Gang setzten und die Armutslage vieler Arbeiter verstärkten: Eine historische Perspektive, die das Trinkerelend im gesamtgesellschaftlichen Konnex aufgreift.

Der Zahltag. (Skulptur von A. Jacopin, Paris)
In der deutschsprachigen Abstinenzbewegung wurde jedoch die prekäre soziale Lebenslage der Arbeiterklasse als Grund für den Alkoholkonsum ausgeblendet. Die wissenschaftliche Verhandlung um die Alkoholbekämpfung tabuisierte das Elend der Arbeiterklasse. Vielmehr wurde der Alkoholkonsum selbst zur Ursache für das Elend der Arbeiterklasse erklärt.

Die Verschwendung des deutschen Ackerlandes für die Herstellung geistiger Getränke vor dem Weltkrieg dargestellt an der Karte des Deutschen Reiches. (Alkoholland – 18000 qkm 1/38 des deutschen Ackerlandes)
Der Alkoholkranke wurde als wirtschaftliche und soziale Bedrohung verstanden, für seine Lage selbst verantwortlich gemacht und schließlich als „minderwertig“ denunziert.

Deutschlands Zeche im Vergleich zu seinen sonstigen Ausgaben.
(Stand von 1909)
Wissenschaftliches Anschauungsmaterial legte dar, dass selbst der Konsum geringer Alkoholmengen für Körper und Geist schädlich sei und folglich eine Bedrohung für das „Volk“ sowie die Volkswirtschaft darstellen würde. Diese Darlegung wurde durch eine wissenschaftliche Beweisführung visualisiert und legimitiert.

Der Schnapsgehalt des Likörkonfekts (Vorkriegszahlen)
Keine Volksgesundheit ohne Arbeitsleistung!
Victor Adler (1852-1918), Arzt, Begründer der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) und einer der wichtigsten Verfechter der Abstinenz, wird der Ausspruch “Der denkende Arbeiter trinkt nicht und der trinkende Arbeiter denkt nicht“ zugeschrieben. Dies wurde zur Leitlinie des Österreichischen Arbeiter-Abstinentenbundes. Die Maxime spiegelt den Fokus der Abstinenzbewegung auf die Erlangung bzw. die Erhaltung der „Volksgesundheit“, im Speziellen der Arbeitsfähigkeit der Bevölkerung.

Wirkung des Alkohols. Einfluss des Alkoholgenusses auf geistige Arbeit, nachgewiesen an der Fähigkeit des Auswendiglernens von Zahlenreihen ohne und unter Einfluss von Alkohol. Nach Dr. Smith
Demgemäß geht auch aus dem Bildmaterial hervor, dass der Kampf gegen den exzessiven Alkoholkonsum weniger individuellen gesundheitlichen Aspekten galt, sondern vor allem auf eine funktionierende, nüchterne Arbeiterschaft abzielte, die verlässlich eine gute Arbeitsleistung erbringen könnte. Wissenschaftlich fundierte Untersuchungen, statistische Ergebnisse und graphische Darstellungen untermauerten die zentralen Aussagen der alkoholgegnerischen Aufklärungsarbeit.

Geschrumpfte Hodenkanälchen, „Degeneration“ und „entartete“ Nachkommenschaft

Einfluss der väterlichen Alkoholvergiftung auf die Kinder: Nerven- und Geisteskrankheiten (nach G. von Bunge)
Alkohol galt beim österreichischen Arbeiter-Abstinetenbund als Keimgift, das „entartend“ auf die Nachkommenschaft eines Alkoholikers wirkt. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Abstinenzbewegung von Vertretern der Eugenik aufgenommen. Der Alkoholismus und seine geistigen und körperlichen Folgeerkrankungen würden sich von Generation zu Generation vererben und letztlich zur Auslöschung der betroffenen Familien führen. Trotz zeitgenössisch kontroverser medizinisch-wissenschaftlicher Debatten zu Mechanismen der Vererbung bildet das Diakonvolut nur jene medizinischen Thesen ab, die die Argumentation von Vererbung und Auslese vertreten.

Einfluss der väterlichen Alkoholvergiftung auf die Kinder: Tuberkulose (nach G. von Bunge)
Gustav von Bunge (1844–1920), Basler Physiologe und ein prominenter Vertreter der wissenschaftlich geführten Abstinenzbewegung, postulierte, ausgehend vom degenerationstheoretischen Gedanken, dass der weit verbreitete Alkoholismus nicht nur den trinkenden Individuen schade, sondern eine Bedrohung der Gesellschaft darstelle, die in einer „Degeneration“ des „Volkes“ münden würde. Man bekämpfte also nicht den individuellen Alkoholismus, sondern die kollektive „Volkskrankheit“. Alkoholiker wurden so als „minderwertige“ Menschen denunziert, die mit ihrem „entarteten“ Erbgut den „Volkskörper“ schwächen. Medizinisch-mikroskopische Darstellungen liefern dafür den Beleg.


Querschnitt durch Hoden
Querschnitt durch Hoden bei einem 20järigen Trinker. (nach einem mikr. Originalpräparat von Prof. Weichselbaum). Keimgewebe entartet, zwischen den geschrumpften Hodenkanälchen massenhaft Bindegewebe.
Von der Fettleber bis zur Schrumpfniere. Monokausale Zusammenhänge und Schuldzuweisung

„Der Alkohohol – Dein Feind!“ Auch der Diskurs über die körperliche Schädigung des Alkohols zielte in der sozialdemokratischen Antialkoholpolitik auf die Gesundheit des „Volkes“ ab. Die Bevölkerung sollte zur Abstinenz erzogen werden, Gesundheit war moralische Arbeit und Abweichung von der Moral hatte Krankheiten zur Folge. Der Terminus „Trinker“ war unscharf: Es erfolgte keine Unterscheidung zwischen Alkoholmissbrauch, Alkoholabhängigkeit und gelegentlichem Alkoholkonsum. Die abschreckenden Bilder degenerierter innerer Organe und Medizinalstatistiken waren ein Appell an die Moral.
In Bezug auf die Bemühungen, Infektionserkrankungen wie Tuberkulose einzudämmen, wurde mit Schuldzuweisung in Wort und Bild operiert. Vertreter des Bunds propagierten die Ansicht, dass Alkoholabstinenz die Voraussetzung in der Bekämpfung von Tuberkulose sei. Weitere zur Debatte stehende Risikofaktoren, wie feuchte Wohnungen, prekäre Arbeitsbedingungen und unzureichende Ernährung wurden von der alkoholgegnerischen Bewegung ignoriert.






Das Königin-Luise-Haus, vier Hunde und ein Wiener Schuldirektor

Das Königin-Luise-Haus in Leipzig (Eigentum des Deutschen Bundes abstinenter Frauen.)
Frauen spielten innerhalb der alkoholgegnerischen Verbände eine aktive und tragende Rolle. Sie sahen in ihrer Aktivität zum einen die Möglichkeit, gegen den alkoholbedingten Verlust der Arbeitsfähigkeit ihrer Ehemänner entgegenzuwirken. Zum anderen fanden Frauen, denen ansonsten keine politischen und wirtschaftlichen Rechte zugesprochen wurden, in ihrer aufklärerischen Arbeit eine Chance, gesellschaftlichen Einfluss zu erhalten. Eine Aufgabe der weiblichen Mitglieder war der Betrieb alkoholfreier Lokale. Die alkoholfreie Gaststätte „Königin-Luise-Haus“ in Leipzig wurde vom Deutschen Bund abstinenter Frauen betrieben.


Häufigkeit des Bier- und Branntweingenusses bei Schulkindern. (nach Untersuchungen in einer Berliner Schule.)
Einfluss des Alkoholgenusses auf die geistige Leistungsfähigkeit von Schülern. (nach Schuldirektor Bayr, Wien.)
Auch der Alkoholkonsum im Kindesalter war Teil der wissenschaftlichen Debatte des Arbeiter-Abstinetenbundes – im Lichtbildvortrag verdeutlicht durch eine numerische Darstellung verminderter kognitiver Leistung bei Schulkindern durch Alkoholkonsum und Experimente mit Jungtieren.

Vier Hunde vom selben Wurf, von denen zwei mäßig Alkohol erhalten haben und dadurch in der Entwicklung zurückgeblieben sind. (Aus der Staatskrankenanstalt Hamburg-Friedrichsberg.)
Neben Informationsvermittlung sah sich der Bund auch für professionelle Hilfe bzw. Behandlung von Alkoholerkrankten zuständig und schuf dadurch wesentliche Ansatzpunkte für die moderne Suchtprävention und Alkoholsuchtherapie. In Wien wurde im Jahr 1922 als Abteilung der Irrenanstalt „Am Steinhof“ die „Trinkerheilstätte“ gegründet.
Bilder aus der Trinkerheilstätte Seefrieden bei Moritzburg in Sachsen:
Belehrung über die Alkoholfrage
Lesen, Musizieren, Billardspielen
Heuernte
Literatur
Auderst, J. & Moser, P.; Eidgenössische Alkoholverwaltung (EAV); Bundesamt für Bauten und Logistik (Hrsg.): (2016), Rausch und Ordnung. Eine illustrierte Geschichte der Alkoholfrage, der schweizerischen Alkoholpolitik und der Eidgenössischen Alkoholverwaltung (1887-2015). Bern: Eidgenössische Alkoholverwaltung (EAV).
Eisenbach-Stangl, I. (1994), Ein Alkoholportrait Österreichs. Alkoholkonsum, Alkoholwirtschaft, alkoholbezogene Probleme und alkoholbezogene Kontrollen. In: Springer, A., Feselmayer, S., Burian, W., Eisenbach-Stangl, I. Lentner, S. & Marx, R. (Hg.), Suchtkrankheit. Das Kalksburger Modell und die Entwicklung der Behandlung Abhängiger. Wien, New York: Springer, S. 29-42.
Ledebur, S. (2011), Das Wissen der Anstaltspsychiatrie in der Moderne. Zur Geschichte der Heil- und Pflegeanstalten Am Steinhof in Wien. Wien: Univ., Phil. Fak., Diss.
Schott, H. (2001), Serie-Alkoholismus: Das Alkoholproblem in der Medizingeschichte. In: Deutsches Ärzteblatt (Heft 30), A 1958–1962.
Spöring, F. (2014), „Du musst Apostel der Wahrheit werden“: Auguste Forel und der sozialhygienische Antialkohol-Diskurs, 1886–1931. In: Tschurenev, J., Grosse, J. und Spöring, F. (Hg.), Biopolitik und Sittlichkeitsreform: Kampagnen gegen Alkohol, Drogen und Prostitution, 1880–1950. Frankfurt, New York: Campus, S. 111–144.
Spöring, F. (2017), Mission und Sozialhygiene Schweizer Anti-Alkohol-Aktivismus im Kontext von Internationalismus und Kolonialismus, 1886-1939.Göttingen: Wallenstein.
Springer, A. (1994), Der Stellenwert der Suchtkrankheiten in Österreich. In: Springer, A., Feselmayer, S., Burian, W., Eisenbach-Stangl, I. Lentner, S. & Marx, R. (Hg.), Suchtkrankheit. Das Kalksburger Modell und die Entwicklung der Behandlung Abhängiger. Wien, New York: Springer, S. 1-28.
Uhl, A., Hojni, M., Gaiswinkler, S., Puhm, A. & Strizek, J. (2020), Handbuch Alkohol Österreich. Band 3: Ausgewählte Themen. Gesundheit Österreich, Wien.
Quellen
Forel, A. (1905), Alkohol, Vererbung und Sexualleben. In: Deutscher Arbeiter-Abstinenten-Bund (Heft 10). www.geschichtsdokumente.de/broschuere-alkohol-vererbung-und-sexualleben-deutscher-arbeiter-abstinenten-bund-1905/ (Zugriff 20.6.2021)
Deutsches Hygiene Museum Dresden, Sammlung Online: Bildverzeichnis „Der Alkoholismus“/ Lichtbildreihe 12: sammlung.dhmd.digital/object/6972d68f-955e-466e-b1ce-4758a8c087cd (Zugriff 3.6.2021)
Internet Archive: Originalschriften zum Alkoholismus: archive.org/search.php?query=alkoholfrage (Zugriff 10.7.2021)
Weblexikon der Wiener Sozialdemokratie, Arbeiter-Abstinentenbund: www.dasrotewien.at/seite/arbeiter-abstinentenbund (Zugriff 20.6.2021)
Wlassak, R. (1922), Grundriss der Alkoholfrage. Leipzig: Hirzel.