WHO?ZULEN. Tote Winkel und blinde Flecken

    "Nicht jeder Huzule weiß, dass er ein Huzule sein soll."

                       Martin Rohde, Historiker

Inhalte

Intro

WHO?ZULEN ist das Ergebnis der Erforschung eines Bestands aus der Fotosammlung des Volkskundemuseum Wien. Der Titel deutet schon auf die zentrale Frage hin, die uns als Forscher*innengruppe bei der Betrachtung des Materials beschäftigt. Wer sind die Huzulen? Über Recherchen zu Herkunft, Entstehung, Urheber und Kontext der Bilder nähern wir uns schrittweise dieser Frage an. Aber auch die Bilder selbst lassen wir sprechen und erzählen. Das, was zu Beginn ein einfaches Bergvolk aus den Karpaten zu sein scheint, gewinnt für uns im Laufe der Ausstellung zunehmend an Komplexität. Unterschiedliche Perspektiven sorgen für Widersprüche und Irritationen. Doch Notizen und Fototexte machen eines klar: Hauptdarsteller*innen dieser Bilder sind eindeutig die Huzulen!

Das Fotomaterial – ein erster Blick

Wo und was ist Galizien?    


Wer sind die Huzulen?


Wer hat die Fotos gemacht und warum?

Was wir über das Material wissen

Teil einer Privatsammlung

Bestehend aus Fotos, Postkarten, Notizen, Bildtexten

Seit 1982 im Besitz des Volkskundemuseum Wien (VKM)

VKM verfügt selbst über große Bestände zu Galizien

Nachlass eines Wladimir Zalozieckyj/Volodymyr Zaloziec’kyj

Ortswechsel von der Aussenstelle „Ethnographisches Museum Schloss Kittsee“ ins VKM in Wien

Entstehungsprozess der Fotos undokumentiert

Nicht alle Bilddokumente stammen v. Zalocieckyi selbst

Zeitraum der Aufnahmen: ca. 1900-1940

Ort der Aufnahmen: Galizien, Bukowina, Polen, Ukraine, Rumänien

Galizien – eine Erfindung

Galizien war von 1772 bis 1918 Teil des Habsburgerreiches. Das historische Gebiet liegt im heutigen Polen und der Ukraine. Bis 1849 wurde es laufend um Gebiete erweitert oder verkleinert und die topografischen Grenzen neu gezogen. Galizien als eine einheitliche kulturelle Vorstellung, Verwaltungseinheit oder Region ist eine habsburgische Erfindung. Es ist eher als Sammelsurium von sprachlicher und ethnografischer Vielfalt zu verstehen. Ethnische Vielfalt war im Habsburgerreich nichts Außergewöhnliches, sondern die Norm.

Auch die multiethnisch geprägte Region Bukowina war von 1775 bis 1918 habsburgisches Teilgebiet. Bukowina bedeutet übersetzt Buchenwald und war eine historische wald- und flussreiche Landschaft im Grenzraum zwischen Mittel-, Südost- und Osteuropa. Die nördliche Hälfte gehört heute zur Ukraine, der südliche Teil zu Rumänien.

Holz war ein wichtiger Rohstoff der Region und die Gegend stark landwirtschaftlich geprägt. Die Bukowina konnte sich in der Habsburgermonarchie, ähnlich wie Galizien, nicht so gut entwickeln wie andere Regionen der Monarchie, weil sie von den wirtschaftlichen Zentren Österreichs weit entfernt war und von den dortigen Herrschern lange Zeit nur wenig Beachtung fand.

Die Fotos von Zalozieckyi entstanden zu einem großen Teil in der Bukowina bzw. dem heutigen Rumänien. Das Siedlungsgebiet der „Huzulen“ erstreckte sich allerdings über beide Kronländer.

Galizien blieb wie die Bukowina auch als habsburgisches Teilgebiet wirtschaftlich schwach und von den Herrschern in Wien vernachlässigt. Man zeigte kaum Interesse für die neu erworbenen und noch weitgehend unbekannten Kronländer, die man für ärmlich und rückständig hielt und aus der sicheren Ferne regierte. Doch die Kronländer standen in dieser Zeit vor großen Veränderungen. In Städten wie Lemberg, Krakau oder Czernowitz, der Hauptstadt Bukowinas, bildete sich eine geistige und politische Elite, die auch im Austausch mit Wien stand.

Das lustige Laufen der Norbotki Frauen und das behäbige Gehabe der Männer in ruthenischer Tracht ist charakteristisch in diesem Stadtbild von Czernowitz"

Wladimir Zalozieckyi

Das „exotische Volk“

Die Huzulen wurden von den Ukrainern als ihr ursprüngliches traditionelles Bergvolk verstanden, das in den osteuropäischen Gebirgsregionen der Karpaten angesiedelt ist. Andere, etwa die Rumänen betrachteten die Huzulen wiederum als eigenständiges Volk. Die Huzulen wurden, wie die Bojken und die Lemken, zu den großen lokalen Bevölkerungen der Ostkarpaten gezählt. Neben diesen drei großen ethnischen Gruppen identifizierte man aber noch viele weitere Randgruppen aus anderen Gebieten. Sie waren offensichtlich ein äußerst beliebtes Fotomotiv. Warum aber interessierte man sich vor allem für die „Huzulen“?

Die „Huzulen“ sind ein Bild, das in der Habsburgermonarchie immer wieder neu konstruiert und ausverhandelt wurde. Sie verkörpern als „exotisches Volk“ das Ursprüngliche, welches es zu Zeiten des Umbruchs in die moderne Welt zu bewahren galt.

Schon in der Habsburgermonarchie galten die Huzulen den Ukrainern als vorbildgebendes „Urvolk“ der Nation, das noch die ursprüngliche Bevölkerung und ihre damaligen Lebensweisen verkörperte. Die schützende Funktion des Gebirges soll dazu beigetragen haben, dass sich besonders viele
ursprüngliche ukrainische Elemente bei den Huzulen erhalten konnten. Die Kleidung nimmt kulturell einen sehr hohen kulturellen Stellenwert ein. In ihrer aufwendigen Tracht und mit ihren volkstümlichen Tänzen werden ihre Traditionen und ihre Brauchtümer auch noch heute für den Tourismus zur Schau gestellt. 

"Die Huzulenregion wurde oft monoethnisch gedacht, dabei handelte es sich um eine kulturell sehr gemischte Region."

Martin Rohde, Historiker

Wir und die Anderen

„Huzulenlandschaft“, 1925

Eine Personengruppe, die von anderen als „Huzulen“ (rumänisch „hocul“, Räuber) beschimpft wurde, nannte sich selbst „Christen„, „Gebirgsbewohner“ oder „Ruthenen„. Andere sahen sich als „Gebirgsbewohner„, waren aber bei aussenstehenden Gruppen als „Bojken“ bekannt. Eine Gruppe, die sich als „Ruthenen“ bezeichnete, hieß wiederum bei anderen „Lemken„. Die Selbstbezeichnung der Lemken war „Rusnak“ (einer) und „Rusnaky“ (viele).

Die Habsburger fassten kurzerhand all jene mit einer ostslawischen Sprache unter dem von ihnen erfundenen Begriff der „Ruthenen“ zusammen. Die Bezeichnung gilt als latinisierte Fassung der Originalbezeichnung „rusyn“ (einer), „rusyny“ (viele).

Wen genau diese Begriffe bezeichnen, darüber sind sich Historiker*innen wie Sprachwissenschaftler*innen bis heute uneinig.

Wann ist man ein Volk?

Die ruthenische Landbevölkerung, insbesondere der Bauernstand, definierte sich stark über die Region und Religionszugehörigkeit und weniger über eine nationale Zugehörigkeit. Diese Menschen unterschieden sich von den anderen Nationalitäten Galiziens vor allem durch ihre Zugehörigkeit zur griechisch-katholischen Kirche. Die Religion sollte eine wichtige Rolle bei der Ausbildung eines nationalen Bewusstseins spielen.

Habsburg im Forschungsfieber

In Europa um 1900 stand die Volkskunde hoch im Kurs. Ihr Ziel: die von der Modernisierung bedrohte ‚authentische‘ und ‚ursprüngliche‘ Kultur der entlegenen Regionen durch Forschung und Dokumentation zu bewahren. Ihre Besonderheit: das Andere nicht in fernen Ländern, sondern in der ‚eigenen‘ europäischen Kultur zu suchen.

Auch im Habsburgerreich begann man sich nun für bisher vernachlässigte Gebiete wie Galizien zu interessieren. Dieses wurde von mehreren Seiten aktiv beforscht. Es gab auf Habsburgerseite die österreichische Volkskunde, eine ukrainisch-ruthenische sowie eine polnische ethnographische Forschungsgesellschaft. Hier standen natürlich ganz unterschiedliche Absichten im Mittelpunkt.

Neben Wissenschaftlern und Vertretern der bürgerlichen und gelehrten Oberschicht fühlten sich auch Maler, Amateure und Privatpersonen, wie Wladimir Zalozieckyi angesprochen. Sowohl in Galizien ansässige, als auch aus anderen Teilen der Monarchie Interessierte reisten nicht selten in organisierten Gruppen an, um sich der beobachtenden ‚Erforschung‘ der vom Verschwinden bedrohten ‚Urbevölkerung‘ Galiziens zu widmen.

„Huzulen“ 1932
„Vor der Kirche“ 1932

Bildmotive und Bildmuster 

"Es gibt keine objektive Ethnographie. Ethnographen schaffen durch die Abbildung einer fremden Welt zugleich eine Fiktion."

Clifford Geertz

Malerische Flusslandschaften, waldreiche Berghänge und idyllische Dorfansichten… Unsere nostalgischen Vorstellungen von Ländlichkeit scheinen sich hier widerzuspiegeln. Das Element Holz ziert fast jedes Bild und auch Zäune, Wegesränder und Landstraßen kehren als Motive immer wieder.

Eine immer wiederkehrende Motivwahl lässt den ‚Huzulen‘ bzw. die ‚Huzulenlandschaft‘ als fotografischen Bildtypus entstehen. Glaubt man den Bildern, so schien hier die Welt noch in Ordnung zu sein. Tatsächlich stand Europa zu diesem Zeitpunkt um 1900 bereits mit einem Fuß in der Moderne.

Ethnographische Fotografie

Der Fotograf macht Bilder. Bilder erzählen Geschichten. Geschichten beeinflussen unser Denken. Unser Denken steuert unser Tun. Die Versuchung der Kategorisierung ist groß. Menschen aufgrund bestimmter Merkmale zu gruppieren, war typisch in der Ethnographie des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Ethnografische Fotografie erwies sich dabei als optimales Werkzeug zur Stereotypisierung. Ihr Einfluss auf unsere Bildvorstellungen von Volksgruppen ist beträchtlich:

Durch die Wahl des Motivs, des Ausschnitts, des Zeitpunktes lassen sich erfundene Wirklichkeiten schaffen. Auch allgemeine Sehgewohnheiten und Darstellungstraditionen einer Gesellschaft beeinflussen das Bild.

Ob man sie nun barfüßig, in Tracht, mit Wanderstock und Bündel, einer Spindel in der Hand oder auf dem Pferd darstellt, die ‚Huzulen‘ als solches bleiben ein inszeniertes Produkt unserer Fantasie.

Fragen, die wir den Fotos stellen können

Wer richtet hier den Blick wie und warum auf wen?

Welcher Blick wird dabei eingenommen?

Was sagt die Objektwahl, Perspektive, Wahl des Ausschnitts aus?

Warum waren gerade damals diese Motive so häufig und beliebt?

In welchem (Nah-)Verhältnis stand der Fotograf zu seinen ‚Objekten‘?

Wie gestaltete sich der Alltag der ‚Feldforscher‘?

Welche Herausforderungen und Hindernisse stellten sich, um an Fotos zu kommen?

Welche Bildmuster sind besonders stark präsent?

Was verrät uns die Inszenierung dieser Bilder?

Wie macht sich die Überlegenheit des forschenden Blicks in den Bildern bemerkbar?

Entsprechen die Darstellungen der Realität der Lebensweise dieser Menschen?

Welche Absichten verfolgen diese Bilder?

Wie wirken die Bilder heute auf uns?

Wie wirkten sie wohl auf die damaligen Betrachter?

Wo und in welchem Rahmen wurden diese Bilder gezeigt?

Was passierte mit diesen Bildern danach?

Welchen Einfluss haben die Fotonotizen auf die Rezeption der Bilder?

Welche Handlungsmacht hatten die Beforschten gegenüber den Forschenden?

Kuriosität Mensch

"Der letzte "Lirnyk" der Bukowina der noch im Jahre 1937 auf den Märkten seine Balladen moralischen Inhaltes sang. Er war blindgeboren lernte seine Künste vor 60 Jahren von einem anderen blinden alten Lirnyk für den er als Honorar 10 Jahr lang singen musste. Ich habe eine Anzahl seiner in seiner Sprache vorgetragenen Gesänge niedergeschrieben. [...]" 
(Text: Fotorückseite)

Transkript der Fotonotiz von W. Zalozieckyi. Der Text beeinflusst die Aussage des Bildes entscheidend.

Der Fotograf

Wladimir Zalozieckyi (1884-1965)

Der in Czernowitz geborene Politiker, Kunsthistoriker und Puppenspieler stammte aus einer sehr wohlhabenden Adelsfamilie der Bukowina.

Als Politiker und Abgeordneter engagierte er sich für nationale Minderheiten, musste mit dem Einmarsch der sowjetischen Armee 1940 aber nach Bukarest und später nach Wien fliehen.

W. Zalozieckyi konnte insgesamt auf eine bewegte und vielfältige Karriere und Lebenszeit im Ausland zurückblicken.

In Czernowitz nahm W. Zalozieckyj intensiv am kulturellen Leben der ukrainischen Gemeinde teil. Er organisierte Gedenkfeiern, beteiligte sich an der Erweiterung der griechisch-katholischen Kirche und gründete einen Verlag und das Landeskundemuseum mit. Er forschte zur ukrainischen Ethnographie und Folklore sowie zur Kunstgeschichte und lud ukrainische und internationale Intellektuelle, Künstler und Politiker in seine Wohnung ein.

Der Fotograf W. Zalozieckyi ist Teil dieser vielschichtigen und begrifflich nur schwer fassbaren Minderheiten. Eine mögliche, weiterführende Fragestellung: Warum also fotografierte er diese Menschen?

Die Fotos sind großteils ohne Anmerkungen und auch sonst konnten wir keine Notizen oder Texte des Fotografen zu den Huzulen finden. Auch wenn die Literatur Hinweise darauf gibt, dass W. Zalozieckyi Forschung zur ukrainischen Ethnographie betrieben haben soll, bleibt unklar, in welchem Kontext die Fotos dieser Sammlung entstanden sind.

Was uns Bilder (nicht) erzählen können

Die Fotos aus dem „Huzulenordner“ wurden an Orten aufgenommen, die wir Forscherinnen dieses Projekts noch nie gesehen haben, sie zeigen Menschen, mit denen wir nie persönlich sprechen konnten.

Die Fotos mit den wenigen Notizen geben uns Einblicke in fremde Leben. Recherchen konnten diesen Blick erweitern.

Doch am Ende bleiben unsere Blicke eine ferne, verzerrte Annäherung an Menschen, die wir schlicht nicht kennen.

Vieles was Bilder nicht zeigen, sehen wir trotzdem.
Vieles was Bilder zeigen, sehen wir anders.

Sekundärliteratur

Inventing Galicia: Messianic Josephinism and the Recasting of Partitioned Poland | Larry Wolff. Slavic Review. Vol. 63. No. 4 (2004), 818-840. Online: http://www.jstor.org/stable/1520422 (Zugriff: 7.10.2014)

Oil Empire: Visions of Prosperity in Austrian Galicia | Alison Fleig Frank. Harvard Historical Studies, Band 149. Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press, 2005

Die großen Unbekannten: Die Ruthenen | Martin Mutschlechner. Online: http://www.habsburger.net (Zugriff: 19.6.2021)

Ethnographie ohne Grenzen. Galizien in den Sammlungen des Österreichischen Museums für Volkskunde. | Begleitveröffentlichung zur Ausstellung „Galizien. Ethnographische Erkundung bei den Boijken und Huzulen in den Karpaten“ im Ethnographischen Museum Schloss Kittsee. Österreichische Zeitschrift für Volkskunde., Band LI/100, Wien: Verlag des Österr. Museums für Volkskunde, 1998

Kolonialismus in der Bauernstube. Oder: Wie sich die Volkskunde ihr Objekt machte | Herbert Justnik. In: Pia Schölnberger (Hg.): Das Museum im kolonialen Kontext. Annäherungen aus Österreich, Wien 2021, S. 304-326

bukowinafreunde.de/czernowitz-heimat-vieler-nationalitaeten/ (Zugriff: 19.6.2021)

Mehr

www.volkskundemuseum.at/fiktiongalizien

www.volkskundemuseum.at/onlinesammlungen/pos1

www.volkskundemuseum.at/onlinesammlungen/oemv22259

www.hutsul.museum